Christ zu werden ist nicht nur erfüllend, sondern auch höchst anspruchsvoll…

Der Lyriker Andreas König im Gespräch mit Stephan Lüttich.
aus den Reinhold Schneider Blättern (Band 3, Ralf Schuster Verlag Passau, 2017)

Herr König, dankenswerter Weise haben Sie den Reinhold Schneider Blättern erneut ein noch unveröffentlichtes Gedicht zur Verfügung gestellt. Ausgehend von einer Architekturbeobachtung steigen wir hinab in den Urgrund des Christentums – historisch mit dem Hinweis auf die Reliquien der Märtyrer, existentiell im Verweis auf den zuweilen fließenden Grund des Glaubens. Dieses Ausgehen von der Begegnung mit historischen Gebäuden, vor allem Kirchengebäuden, findet sich auch in vielen anderen Ihrer Werke – wie übrigens nicht selten auch bei Reinhold Schneider. Ist lyrisches Schaffen für Sie grundsätzlich ein Weg von außen nach innen?

Lyrik ist für mich eher der Schnittpunkt zwischen dem Äußeren und dem Inneren. Ausgangspunkt für ein Gedicht kann sowohl die Begegnung mit einer Kirche sein, als auch ein Wort, eine Erkenntnis, die betroffen macht oder erhellend wirkt. Immer geht es darum, „Licht ins Dunkel“ – und zwar zuvorderst in mein eigenes – zu bringen. Ich habe dabei das Gefühl, eher ein Interpret dessen zu sein, was andere, größere Geister bereits vor mir gesehen, gedacht, empfangen haben. Doch erst die Interpretation integriert das Erlebte und Erfahrene in mein eigenes Leben. Selbst, wenn ich meine: Dieser Gedanke, diese Verknüpfung ist neu, stelle ich meist irgendwann später fest, dass schon jemand vor mir darauf gekommen ist. Das bekümmert mich jedoch keineswegs, sondern es freut mich, gliedert mich ein in eine Art von geistiger Gemeinschaft, in der man gerne teilt und einander hilft. Worauf ich freilich schon achte, ist die Originalität der Bilder, wobei es auch hier zu „Entdeckungen“ kommen kann, die keine originären mehr sind. Inhaltlich suche ich, wie gesagt, nach der Erhellung des Dunkels, ohne diesem ausweichen oder es verharmlosen zu wollen. Wenn man alt genug ist, hat sich viel davon im eigenen Leben angesammelt – und selbst, wenn man ein gläubiger Mensch ist, hat man oft genug damit zu kämpfen. Der Lyriker gewinnt diesen Kampf nicht selten im Gedicht – und hoffentlich steht dahinter auch ein persönlicher Schritt nach vorn, im Glauben und im Leben.

Das Christentum, der persönliche Glaubensweg stehen oft im Mittelpunkt Ihrer Gedichte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Lyriker wie Reinhold Schneider, Bernt von Heiseler oder Rudolf Alexander Schröder in ihren Werken ebenfalls immer wieder dezidiert christliche Themen aufgenommen. Bis in die 1950er-Jahre erfreuten sie sich großer Beliebtheit, heute sind sie fast ganz vergessen. Worauf ist das Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

Meines Erachtens darauf, dass wir gerade dabei sind, unser christliches Erbe zu verspielen. Die Geringschätzung und die Gleichgültigkeit, mit der wir diesem begegnen, sind eklatant und schwächen zunehmend die Basis, auf der wir uns als Einzelne, aber auch als Gesellschaft und Staatengemeinschaft bewegen. Vielleicht fanden die von Ihnen zitierten Autoren deshalb noch eine größere Aufmerksamkeit, weil zu ihrer Zeit – also relativ kurz nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen – viele Menschen doch auf der Suche nach Orientierung, Sinn und Halt waren. Auf dieser zutiefst menschlichen, uns zu Menschen machenden Suche also. Wohlstand, die Suggestion, durch Konsum auch seelische Erfüllung erlangen zu können, und die Konzentration auf das, was im Augenblick Lust bringt, haben uns träge, satt und überheblich gemacht. Wir lieben „Fertiggerichte“ und finden nichts unerträglicher, als auf etwas verzichten oder ein Leid ertragen zu müssen. Gedichte leben vom Verzicht (auf überflüssige Worte), sie erfordern, dass ich mich einlasse, ja, sie können sogar leidvoll sein (für den Autor allemal), wenn man ihren Gehalt auch mit aller Mühe nicht völlig rational auflösen kann. – Vielleicht kommt noch ein zweiter Gesichtspunkt hinzu: Wenn man sich als Autor in unserer Zeit getraut, über religiöse Erfahrungen und Fragen zu schreiben, so begibt man sich – zumal als Lyriker – direkt aufs Abstellgleis, wird häufig abgetan, nicht ernst genommen. Da Schreiben aber ein existenzieller Vorgang ist, hat man keine Wahl, als über das zu schreiben, was einen im Innersten bewegt. Träumt man überdies den alten Traum von der Einheit der Person (aus Leben, Arbeiten, Glauben), so ist es nur natürlich, dass man auf den Zeitgeschmack oder -geist keine Rücksicht nimmt. Ferner möchte ich hinzufügen, was einmal ein Kritiker über meine Arbeiten gesagt hat: Es geht in ihnen zentral um die Frage, wie man in unserer Zeit glauben kann, mit offenen Augen, leidsensibel, voller Sehnsucht nach der so bitter nötigen Erlösung aus unserer manchmal schier ausweglos erscheinenden Lage. Ich bin fest davon überzeugt: Keine andere Religion kann uns dabei (auch lebenspraktisch) so weiterhelfen wie das Christentum. Doch statt vor unserer eigenen Tür zu suchen, reisen wir lieber – auch geistig – in ferne Länder und Kulturen. Zugegeben: Christ zu werden ist nicht nur erfüllend, sondern auch höchst anspruchsvoll. Wer schon das (berechtigte) Vorhandensein eines schlechten Gewissens – etwa über den eigenen, nicht mehr zeitgemäßen Lebensstil – als Belästigung empfindet, wird sich dann wohl lieber einen privaten Glauben aus fernöstlichen Versatzstücken zusammenbauen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie als Grund für die weitgehende Vergessenheit Reinhold Schneiders und anderer christlichen Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts also vor allem gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Gibt es aber nicht auch noch andere Gründe, die zum Beispiel im unbedingten Festhalten am Reim und der überhaupt strengen Formalität dieser Dichtung liegen? Wilhelm Kempf etwa wirft Reinhold Schneider vor, seinen Sonetten mangele es „auf eine schwer beschreibbare Weise an Stringenz, an Mark und Muskulatur“(1). Haben diese Dichter aus einer vielleicht falsch verstandenen Allianz von Christentum und konservativ-bürgerlichen Formen den Anschluss verpasst?

Dies zu beurteilen, getraue ich mich nicht und überlasse ein solches Urteil berufeneren Stimmen. Beim Lesen von Reinhold Schneiders Sonetten ergeht es mir persönlich so, dass sie mir formal und sprachlich „aus der Zeit gefallen“ zu sein scheinen, obwohl ich ihre Botschaft verstehe und teile. Ganz anders bei seiner Prosa, deren „klassische Größe“ mir einfach Bewunderung entlockt. Lyrik sollte meines Erachtens die geistige Grundverfassung einer Zeit widerspiegeln, genauer: Die Brüche aufzeigen, die unser Mensch- und Christsein durchziehen. Deshalb misstraue ich dem Reim und versuche, eine lyrische Sprache zu sprechen, die das Bruchstückhafte, das Zersplitterte, Punktuelle unserer Existenz erkennen lässt. Das Gedicht als solches bewahrt schon die Sehnsucht nach dem „Ganzen“ und besingt oft die Schönheit von Dingen, die diese Ganzheit bewahrt zu haben scheinen. Bürgerlichkeit und Christentum haben für mich wenig gemein (von wesentlichen Grundwerten des Zusammenlebens einmal abgesehen): Eher sehe ich die In-Frage-Stellung alles Bürgerlichen, aller falschen Sicherheiten und bequemen Gewissheiten im Christlichen am Werk. Wir sind Gebrochene – und sollen es auch sein! – Also erlaube ich meinen Gedichten, nur insoweit „schön und vollendet“ zu sein, als dadurch diese Grundbedingung nicht zugedeckt wird.

In jedem Fall haben Lyrik und Literatur überhaupt für Sie also eine Bedeutung, die über ein reines „L‘art pour l’art“ hinausgeht. Sehen Sie in der Dichtung auch ein kritisches Potential, das über die reine Beschreibung menschlicher und gesellschaftlicher Gebrochenheit hinausgeht? Oder mit anderen Worten: „Soll die Dichtung das Leben bessern?“

Wenn man als Autor viele Stunden über seinen Gedichten verbringt, so ist dies nicht selten eine „gestohlene Zeit“. Eine Zeit, die anderen Aufgaben entzogen wird, die man auch Menschen, die man liebt, entzieht. Man könnte ohne weiteres fragen: Wäre es, im Sinne einer Besserung der Welt, nicht viel sinnvoller, in dieser Zeit mit den Kindern zu spielen oder Flüchtlingen Deutsch beizubringen? – Tatsächlich stelle ich mir von Zeit zu Zeit die Frage, was ich da tue: So viel Mühe und Ringen – und dann ist es fraglich, ob ein Text überhaupt erscheinen wird bzw. ist kaum zu erwarten, dass besonders viele Menschen ihn lesen werden. Vielleicht kann man sagen, dass diese Arbeit wenigstens insofern zur Besserung der Welt beiträgt, als sie es mir ermöglicht, die Herausforderungen meiner beruflichen Tätigkeit als Psychotherapeut besser zu bestehen und mich mental zu regenerieren. Das kommt dann auch meiner Umwelt zugute. Wie Sie sehen, messe ich also dem „Weltverbesserungspotenzial“ von Lyrik realistischerweise keine so große (überindividuelle) Bedeutung bei. Nichtsdestotrotz bin ich entschieden der Meinung, dass nur solche Lyrik Gehör verdient, die den Anspruch erhebt, die Welt verändern zu wollen. Das klingt wie ein Widerspruch. Aber müssen wir nicht, zumal als Christen, in allem, was wir unternehmen, danach streben, die Lage der Welt zu verbessern? – Ein weiterer Aspekt wäre noch zu bedenken: Lyrik ist eine ziemlich ohnmächtige Kunstform. Für mich teilt sie damit die Ohnmacht all derer, die sich auf dem Boden des Christentums, der Bergpredigt, der Gewaltlosigkeit bewegen, in der Nachfolge Jesu. Und wie der gläubige Mensch weiß, zeigt sich dessen Stärke – von vielen Menschen als Torheit empfunden – gerade in der Schwäche des Kreuzes.

Das ist ein sehr tiefer Gedanke. Würden Sie sagen, dass eine Sprache, die den christlichen Glauben in angemessener Weise verkündigen will, diese Zeichen der Ohnmacht grundsätzlich an sich tragen muss? Und müssten dann die Predigenden aller Kirchen nicht mehr Lyrik lesen und verinnerlichen?

Mit dem Wort „Verkündigung“ habe ich meine Schwierigkeiten. Ein Gedicht lässt sich nicht – für welchen guten Zweck auch immer – in Dienst nehmen, selbst, wenn der Autor dies versucht. Die besten Gedichte entstehen aufgrund eines bildhaften Einfalles, einer Inspiration – und überraschen selbst den Dichter mit etwas Neuem, Unerwarteten, und bekräftigen damit ihren Eigenwillen. Aber nur dieser verleiht ihnen ja ihr Eigenleben. Und das ist etwas sehr Schönes, auch Wunderbares. Eine Neuschöpfung. Manchmal ist es in der Tat so, dass das Gedicht dabei Verkündigungscharakter hat oder bekommt: Aber mehr als „theologische Wahrheiten“ verkündet es dann die Wahrhaftigkeit einer Suche, die Ernsthaftigkeit einer Frage oder die freudige Überraschung über eine unerwartete, staunenswerte Antwort, die gefunden wurde. – Den Predigern unserer Tage würde ich raten, sich selbst als Personen stärker ins Spiel zu bringen, die eigenen Suchprozesse und Zweifel, das eigene Scheitern und Gelingen. Wenn ihnen dabei Lyriker hilfreich sein können, welche genau dies ins Gedicht bringen, dürfen sie gern auf diese zurückgreifen. Der „Wahrheit“, die ein lyrisches Bild enthält, sollte man jedenfalls ebenso vertrauen und mit Respekt begegnen, wie dem Geheimnis eines jeden Geschöpfs, welches sich nicht einfach erklären, zerlegen und „beherrschbar“ machen lässt. Noch mehr aber würde ich den Predigern raten, sich an Papst Franziskus zu orientieren.

Sie sagen, dass sich in guter Lyrik Gebrochenheit und Ohnmacht der Gegenwart sowie die Sehnsucht nach Ganzheit ausdrücken müssten. Welche Rolle spielt eine unmittelbare biographische Erfahrung der existentiellen Ausgesetztheit, wie sie – sicherlich in sehr extremer Form – Reinhold Schneider etwa im „Winter in Wien“ beschreibt, für Sie als Dichter?

Leider muss ich gestehen, dass ich das genannte Werk noch nicht kenne und insofern natürlich auch mit meiner Antwort nicht daran anknüpfen kann. Allerdings hat das Stichwort „Winter“ mir ein spätes Werk Adalbert Stifters in Erinnerung gerufen, das mich stark berührt hat. Soweit ich mich erinnere, trägt es den Titel „Winter im Bayerischen Wald“ und schildert einen Aufenthalt des todkranken Dichters in der Einsamkeit, der er, bedingt durch einen heftigen, tagelangen Schneefall, „existenziell ausgesetzt“ ist. In kaum einem Werk kommt man Stifter so nahe, der es vermocht hat, seinen epischen Atem dem der Natur anzugleichen. – Aber zurück zur eigentlichen Frage: Erfahrungen existenzieller Ausgesetztheit sind Bewährungsproben und führen, wenn man sie besteht, zu größerer Demut und Dankbarkeit. Mein Brotberuf bringt es mit sich, dass ich Menschen – auch dem Entstellten und Verformten in ihnen – immer wieder ausgesetzt bin. Dabei hat es auch Erfahrungen von (scheinbarer) Auslieferung gegeben, Zeiten, in denen ich mir Sorgen um die Zukunft gemacht habe, etwa, weil Hass mich getroffen und zu entsprechendem Agieren geführt hatte. Zum Glück wurde mir die Erkenntnis zuteil, dass es sich um eine Christuserfahrung handelte, wodurch sich dann meine innere Haltung der Situation gegenüber geändert hat. Demut entsteht, wenn man sich die eigenen existenziellen Brüche (auch die Selbstüberschätzungen) vor Augen hält, aber auch in der oben erwähnten Begegnung mit der Natur, etwa im Bayerischen Wald, woher meine Frau stammt. Und natürlich ganz entscheidend in der Begegnung mit Christus und dem Evangelium. Von all dem lyrisch „zu erzählen“, ist mir ein Anliegen. Schreibend „bedanke ich mich“, kläre meinen Weg, ertaste mir einen „inneren roten Faden“ und versuche, diesen auch anderen Tastenden zur Verfügung zu stellen. So gern ich manchmal in meinem Schreibzimmer bleiben würde, so genau weiß ich doch, dass ich „hinaus muss“, in die Praxis, zu den Menschen, um ihnen nahe zu sein und den Dienst zu verrichten, der oft auch in einer existenziellen Begegnung besteht. Hierbei wiederum fühle ich mich Reinhold Schneider nahe, der ja intensiv mit Menschen in Austausch stand und ihnen zu helfen versucht hat.

 

(1) Das europäische Sonett. Bd. 2, Göttingen: Wallstein 2002, S. 384

One thought on “Christ zu werden ist nicht nur erfüllend, sondern auch höchst anspruchsvoll…

  1. Elmar Mitterstieler SJ

    Lieber André,
    guter Freund!

    Du wünscht Dir einen Blog von mir – ich weiß nicht, ob das hier einer ist (sonst kannst Du ihn ja dazu machen).
    Schon lange geht er in mir um – und dies ist, was beim Gedanken daran in mir immer wieder kommt:

    Du wohnst
    im Haus meiner Wunden
    und bittest mich, dein Gast zu sein
    (Du bist geblieben …, aus: Zwischentoren)

    Und:


    Mit dem Tod
    sind wir verlobt

    Geheiratet
    wird ein anderer
    (Auf dem Friedhof von St. Severin, Passau, aus: Im Kreuzgang)

    Das ist wahrlich nicht das Einzige, kehrt jedoch in mir wieder und wieder.
    In österlicher Freude Dir herzlich und dankbar verbunden
    Elmar

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