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Der alte König des Maronenhains

Der titelgebende „alte König“ kümmert sich liebevoll um seine Bäume und steht prototypisch für den neuen Menschen, der sich – im Geist des Hl. Franziskus – um die Bewahrung der Schöpfung sorgt. Ein biografisch und poetisch bedeutsames Thema, das in dieser Sammlung aufleuchtet.

 

Auszug aus dem Buch:

 

D a s   P r i s m a

Während ich auf dich wartete,
am Fenster;
im Angesicht des Herbsts,
zerbrach über meinen Lidern
das Licht

Ich las die Splitter auf
– sie tanzten –
und hoffte,
du würdest genug
von der Stille verstehen

 

K r o n e n b l i c k

I
Kronen alter Bäume
sind Körbe voller Zeit

II
Gott trägt sie
am Arm
an uns vorüber

 

 

Lesungen:

Gesprochen von Stephan Steinseifer, ERF Medien Wetzlar aus der Sendereihe ‚Lesezeichen‘ vom 10. Februar 2015:

 


 

S T I M M E N   Z U M   B U C H

 

Wer heutzutage über zeitgenössische Lyrik schreibt, stimmt fast immer ein Klagelied an. Auf den Dichtern und ihren Gedichten liegt, so scheint es, die bleierne Schwere der öffentlichen Gleichgültigkeit und der kommerziellen Erfolglosigkeit. Dem steht jedoch eine wachsende Zahl an Einzelpublikationen gegenüber, freilich mit bescheidenen Auflagen, und eine noch größere Zahl an Lyrikveranstaltungen. Ein Beispiel nur: Beim Ökumenischen Kirchentag in München zog die „Nacht der Poesie“ über 1.000 Besucher an, die teilweise auf der Treppe zum Alten Rathaussaal und im Freien der Lautsprecher-Übertragung zuhörten.

Das alles hat sicherlich damit zu tun, dass Lyrik zu einer Kunst der Performance im öffentlichen Raum geworden ist. Gleichzeitig hat sich aber auch ein sprachlicher Wandel vollzogen: von der hermetischen Poesie des vorigen Jahrhunderts, die zum Monologisieren neigte, hin zu einer sprachlich wieder offenen, auf Kommunikation und Diskurs angelegten „Realpoesie“, wie sie von Matthias Politycki, ihrem Wortführer, gerne genannt wird. In einer Zeit der technokratischen Kürzel und der Internet-Geschwätzigkeit erscheint die Lyrik immer stärker als eine der letzten Inseln sprachlicher Authentizität: Im Gedicht, das diesen Namen verdient, sind die verwendeten Bilder noch nicht abgegriffen; hier kehren, wenn überhaupt, die Fertigsätze der Talksendungen, das glatt polierte Mediendeutsch, höchstens in ironischen Abbreviaturen wieder.

Das neue Selbstverständnis der Lyrik macht nicht halt vor den religiösen Gedichten. Sie standen lange Zeit (und oft zu Recht) im Verdacht, eher der Traktatliteratur anzugehören: einer Gebrauchsliteratur für den kirchlich-sakralen Raum, die ihre Herkunft als mindere Schwester der Theologie nur schwer verbergen konnte. Allerdings gab es selbst in der poetischen Dürre immer Autoren, deren Rede von Gott spirituell überzeugend und poetisch auf der Höhe der Zeit war. Mit Kurt Marti und Richard Exner, den so unterschiedlichen literarischen Charakteren, seien hier nur zwei genannt – und mit Andreas König ließe sich ein dritter, neu hinzugekommener Autor anführen, der auf ein ganz unverwechselbar-eigenständiges Oeuvre verweisen kann.

2010 war von ihm ein Gedichtband unter dem bewusst biblisch akzentuierten Titel „Gespräche am Jakobsbrunnen“ erschienen. Dieser Band hatte so gar nichts zu tun mit dem Mainstream der literarischen Produktion und trotzdem hielten die Gedichte jeden Vergleich aus. Sie forderten ihre Leser zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Gelesenen heraus; keiner der Texte erinnerte an das herkömmliche „Gotteslob“ oder an die moralisierende Selbstreflexion so vieler, theologisch geschulter Schreiber. Stattdessen wurden hier auf unterschiedlichste Weise erleuchtete Momente, Wendepunkte des Lebens, thematisiert, die etwas erahnen lassen, was durch rationale Gewissheiten nicht ersetzbar ist: die viel tiefer gehende Erfahrung der Gnade.

Andreas König, der bürgerlich André van Wickeren heißt, brach in diesen Gedichten (so steht es in einem Brief von ihm) mit der Art, in der er bis dahin geschrieben hatte: „zu schön, zu wohlklingend, zu rund“. Sein neuer Weg führte ihn zu überraschenden Bildern, zu oft unvollendeten Sätzen, die über Jahrhundertbrüche hinweg das Gespräch mit den christlichen Mystikern fortzusetzen scheinen. Maßstab der Gedichte ist nicht (wie bei manchen epigonalen Schriftstellern) das Gelingen, sondern das Zerbrechen – und ganz am Ende die Versöhnung aller Widersprüche, die Verschmelzung des Antithetischen zu einem neuen, erträumten und vorausgeglaubten Ganzen. Der Christ hat dafür das schöne, häufig verratene Wort des Heils.

Der Autor, ein „Fußgänger des Worts“, wie er sich in einem programmatischen Gedicht charakterisiert, gehört zu den leisen Stimmen in einem sonst eher lauten, narzisstischen Literaturbetrieb. Was er zu sagen hat, nimmt sich häufig zurück bis auf sehr reduzierte Satz- und Bildfragmente. Zwischen den Leerflächen der Gedichte leuchten dann versprengte Botschaften auf, die an biblischen Szenen oder an Erlebnisse der Kunst im sakralen Raum anknüpfen. Da tritt das lyrische Ich plötzlich in das Spiegelbild der Frau am Jakobsbrunnen und schöpft mit der „Zungenscherbe“, mit dem zerbrochenen Krug, den „niemand und nichts mehr/ mir füllen soll“. Religiöse Erfahrung teilt sich in solchen Momenten kompromisslos mit. Dabei schafft Andreas König eine berührende Gleichzeitigkeit: Er wahrt das Geheimnis, indem er es enthüllt.

Die Gedichte im neuen, zweiten Buch, die hier unter dem Titel „Der alte König des Maronenhains“ versammelt sind, führen die Themen des ersten Buches fort und erweitern sie. Viele der Texte sind noch offener als früher, noch verletzlicher. Ihr Wahrnehmungsvermögen hat sich geschärft. Auf die Zerrissenheit der Schöpfung antwortet die Ruhelosigkeit, die Unvollkommenheit des Menschen, der sich selbst als „Störenfried“ erlebt. Aber gleichzeitig, alle Dissonanzen überlagernd, ist die immer wieder beschworene Kraft der Stille ein gemeinsamer Nenner dieser Gedichte; zwei von ihnen handeln bezeichnenderweise von den „Kindern des Schweigens“, den Kartäusern.

Ortswechsel, Reiseerfahrungen – im böhmischen Stifterland, am Golf von Salerno, auf dem Bodden und am Wattenmeer – öffnen die Augen. Aus der Ferne wird eine fremde Nähe. Die Landschaften des Dichters, der sich einen „Erdenbürger“ mit „himmlischem Pass“ nennt, sind sehr offen und zielen selbst dort, wo sie Nähe vermitteln, ins Weite. Das gilt auch für die „Erinnerungsstücke“, für die Momentaufnahmen aus der Kindheit. Immer wieder wählt Andreas König dabei das Wasser als Thema, dessen Fließen den „Übergang zum Schweigen“ in sich trägt. Nach dem bisher Gesagten überrascht es nicht, dass der Autor dieses Motiv auch in den ungleich größeren Zusammenhang mit der Taufe und der Auferstehung stellt. Das Gedicht „Gesten der Gleichzeitigkeit“ ist dafür beispielhaft, mehr noch: Es ist ein Glaubensbekenntnis, das jede Theologie, die doch seine Voraussetzung ist, weit übersteigt.

Bei so viel geistgetriebener Unruhe sehnt sich der Leser nach Haltepunkten, nach Möglichkeiten zur Einkehr. Auch sie gibt es in diesem Buch, vor allem in den Kirchenporträts, beispielsweise der Stiftskirche von Tübingen oder der Klosterkirche St. Ottilien. Auch dort, wo der Autor seine literarischen Hoffnungen protokolliert, wird der atemlose, drängende Ton vieler Texte bewusst zurückgenommen: „Vielleicht / bewahrt ein Gedicht / einen Menschen / vor dem Erfrieren“. Solche und ähnliche Aussagen sind, bei aller sprachlichen Kargheit, dem mystischen Gebetsvertrauen sehr nahe. Das macht für viele heutige Leser, erst recht für die Literaturvermittler der Feuilletons, ihre Fremdheit aus – und ihre so verwirrende Tonlage. Wer freilich ein religiöses Sensorium hat, wird die leidenschaftliche Gottesrede des Autors im großen Kontext der abendländisch – christlichen Gottessehnsucht verorten: „Was könnte ich dir anderes geben / als das, was ich nicht habe / nicht kann und nicht bin?“

Nachwort von Erich Jooß

 

 

Gedichte, die zu Wegbegleitern werden für den, der sich auf ihren Rhythmus einlässt

„Lösch aus dein Licht und schlaf! Das immer wache/ Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt.“ Welcher Hörer von heute vermöchte diese Zeilen aus dem Gedächtnis fortzusetzen? Doch was besagt es schon, wenn von einem Autor nur wenige Gedichte überleben? So ist es mit Hans Carossas Gedicht „Der alte Brunnen“, das er für Hugo von Hofmannsthal zu dessen 50. Geburtstag 1924 gedichtet hat, das mit diesen Zeilen beginnt. Vielen der Gedichte des zweiten Gedichtbändchens von Andreas König – das erste erschien 2010 unter dem Titel „Gespräche am Jakobsbrunnen“ – , möchte man ein Fortleben auch in hundert Jahren wünschen, weil sie bis in die einzelne Zeile nachklingen im Leser und Hörer und etwas zum Leben erwecken in ihm, das durch das Gedicht eine sprachliche Fassung erhielt, so in den Bild-Worten: „Das Öffnen des Auges/ nach Tagen voll Blindheit“ – „Der Herbst ist ein Raum für Musik“ – „In mächtigen Wolken,/ meereserfahren,/ steht die Zeit still“ – „Morgen schon werden wir Vertriebene sein“. Dies sind Worte, die zu dem Ganzen eines Gedichtes gehören, das in einem unerhört frischen Ton Tor sein will zu neuem Leben. Ein an alte Kirchenlieder gewöhntes Ohr kennt diesen Ton; dass er so frisch klingt, liegt wohl an der Haltung des Autors, der ganz ein demütig Hörender und Empfangender sein will. Zur Sprache kommt, was in dieser Haltung empfangen wird, etwa in dem mit „Kronenblick“ überschriebenen Gedicht:

I
„Kronen alter Bäume/sind Körbe voller Zeit

II
Gott trägt sie/ am Arm/ an uns vorüber

Die Grundvoraussetzung dieses Hören- und Empfangen-Könnens ist die Stille, die ja zum rechten Gebet gehört. Gebete möchte ich alle Gedichte Andreas Königs nennen in einem Sinn, der selbst dem Menschen zugänglich ist, der sich ganz unempfindlich für Religiöses hält. Er wird überrascht sein, aber nicht nur er, dass selbst der unscheinbarste Augenblick „für den Himmel offen“ ist.

Hans Unterreitmeier, Sauerlach
in: BUCHPROFILE, St. Michaelsbund, München

 

 

Fußgänger des Worts Religiöse Lyrik von Andreas König

Mittlerweile liegen drei Gedichtbände – die beiden letzten stammen aus den Jahren 2013 und 2010 – von Andreas König vor, der eigentlich André van Wickeren heißt und als Psychologe und Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche in eigener Praxis im Allgäu (1) arbeitet. Das Pseudonym braucht er offenbar, obwohl er es selbst lüftet, und Gedichte schreiben scheint eine Art Psychohygiene für den 1967 Geborenen zu sein. (Er konvertierte im Oktober 2008 zum katholischen Glauben, zufällig am Geburtstag seiner Mutter.) „Fußgänger des Worts“ ist nicht nur der Titel des ersten Textes der „Gespräche am Jakobsbrunnen“. Es könnte fast die Visitenkarte des Autors sein: „Ein Leisetreter / auf dem Pflaster der Sprache, / ein Igel // Eingerollt in seine Verse, / behauptet er / ihren Sinn“ (11). Andreas Königs Gedichte nehmen einen ein, ohne zu vereinnahmen, sie verleiten zum Bleiben, sie verlangen Zustimmung ab oder rufen Ahnungen wach. Was könnte Lyrik Besseres leisten als dies? Welch ein Glück, dass sich ein angesehener Verlag gefunden hat, der das Risiko einging, einem „Anfänger“ eine Chance zu geben, auch wenn nicht sofort der „Markt“ aufschreit und der Literaturbetrieb einen neuen Stern aufgehen sieht.

„Lyriker“, so Otto Betz mit Blick auf Reiner Kunze, „haben es in unseren Zeiten nicht leicht. Wer nimmt sich schon die Zeit, diese knappen Notate geruhsam zu entschlüsseln, sie in sein Leben zu übertragen.“ Für religiöse Lyrik trifft dies erst recht zu – zumal gerade im kirchlichen, noch mehr im liturgischen Kontext große Namen wie Rose Ausländer, Hilde Domin oder Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann, Christine Busta, Marie Luise Kaschnitz oder Christine Lavant, Paul Celan, Heinrich Böll oder Kurt Marti, Dorothee Sölle oder Silja Walter in den letzten Jahrzehnten vereinnahmt, um nicht zu sagen: „verwurstet“ und damit oft trivialisiert worden sind. In „Gedichte lesen – Gedichte verstehen“, einer Beilage zum Sammelband „Wem gehört die Erde. Neue religiöse Gedichte“, schrieb PEN-Mitglied Paul Konrad Kurz vor dreißig Jahren in Abwandlung des Fundamentalsatzes „Begreifen, was uns ergreift“ von Emil Staiger: „Begreifen, was sich uns mitteilt. Begreifen, was uns in Frage stellt, zum Leben ermutigt oder am Leben hindert. […] Wir wollen begreifen, wovon und wozu uns das Gedicht befreien will.“ (3)

Kurz erinnerte an Bert Brecht, der nach dem „Gebrauchswert“, der Alltagstauglichkeit von Lyrik, gefragt hatte – jenseits „hübscher Bilder“ oder „aromatischer Wörter“. Wenn er schrieb: „Hauptthema auch der religiösen Lyrik bleibt der Mensch: der beschädigte Mensch, der angerufene Mensch, der heilsuchende Mensch, der Mensch in seinen Beziehungen zu jedem Ding, zur Luft, zu den Bäumen, zu den nächsten und ferneren Menschen; der Mensch in seiner Beziehung zum Heiligen, zu Gott“, dann hat man hier fast so etwas wie eine Charakterisierung der Gedichte von Andreas König vor sich. „Der Antrieb zu religiös poetischer Arbeit kommt aus der Verwundung, sehnt sich nach Heilung. Poesie schafft intensive Gegenwart“, das spürt man bei König. Die „Gespräche am Jakobsbrunnen“ (2010) sind elf Abteilungen zugeordnet, umrahmt von „Fußgänger des Worts“ („statt eines Vorworts“) und „Die Kammer“ („statt eines Nachworts“): „Höre Mensch“, „Augen“, „Heimsuchung“, „Kerzen“, „Kleine Leute“, „Zimmer mit Bergblick“, „Reisende“, „Gebieter der Stille“, „Die Unterwerfung“, „Gebete der Verborgenheit“ und „Nachtblick“. Was verbirgt sich dahinter? Reflexionen an Orten wie einem romanischen Taufstein, einem Kreuzgang, einem Altar oder im Brixener Diözesanmuseum („Wenn man uns / die Totenmaske abnimmt, / um zu sehen, wem wir alle einmal / ähnlich waren“: „Ebenbildlich“, 27), in der Münchener Herz-Jesu-Kirche oder am Lebensbaumaltar im Tiroler Stift Stams, im Schwäbischen oder in der Toskana („Erbarme dich meiner, Herr /, und werde geboren / für mich“: „Krypta“, San Miniato del Monte 40).

König beobachtet einen orthodoxen, einen afrikanischen, einen indischen Priester, er wirbt für den barmherzigen Blick, für kleine Leute, wird zum Landschaftsbeobachter. Es geht durchwegs um Menschwerdung, auf verschiedenen Ebenen: „Berufen bist du, Mensch zu werden // Wie Gott // Im Kleide der Vergänglichkeit / kommt er uns entgegen, / uns die Unsterblichkeit zurückzubringen // Uns, / wie wir glauben, Götter zu sein“ („Berufung, konkurrenzlos“, 82). Denn: „Einer der spürt: / Seine Wunden / werden geliebt […] // Gedichte / sind Wunden / solcher Liebe“ („Ein heiler Mensch“, 115). Im Schauen und Wahrnehmen sind viele Texte entstanden, an banalen Orten des Lebens manchmal wie dem Pasinger Bahnhof, an ernsten Orten wie mit dem „Hymnus an die Eltern des Kindes, das nicht lebensfähig war (110)“ oder nachts („Wir müssen Gott / das letzte Wort lassen // Ihm, der das erste sprach“ („Mondnacht“ 129) – ja, es sind Begegnungen wie jene am Jakobsbrunnen, wo Augen aufgingen, Einsicht wuchs: Gedichte als Mäeutik.

Auch der jüngste Band „Der alte König des Maronenhains“ (2013) versammelt acht Abteilungen („Die Lichtuhr“, „Im Garten der Dreifaltigkeit“, „Vor dem Spiegel“, „Hirtenstab“, „Begegnung im Treppenhaus“, „Stare“, „Erinnerungsstück“, „Lied vom Sterndeuter“) zugeordnete Gedichte. Wanderungen und Reisen inspirieren, die Natur, eine Lok, ein Spiegel. Wieder sind es heilige Orte wie die Stiftskirche in Tübingen, St. Ottilien, Dießen am Ammersee, die ins Wort drängen, Fragen aufwerfen, in Frage stellen. Vögel, Wälder, eine Kartause, der profane Raum eines Provinzbahnhofs – nichts bleibt ausgespart, alles wird transparent auf eine andere Wirklichkeit hin: „Wort, das explodiert, / damit wir leben können, / in einem Licht, das alle Sterne überdauert“ („Lied der Sterndeuter“, 88). Im Nachwort räsoniert Erich Jooß über „Die Kraft der Stille“ (91–95). Aus ihr sind diese Gedichte zweifellos entstanden. Und er beobachtet im Blick auf zeitgenössische Lyrik einen sprachlichen Wandel – „von der hermetischen Poesie des vorigen Jahrhunderts, die zum Monologisieren neigte, hin zu einer sprachlich wieder offenen, auf Kommunikation und Diskurs angelegten ,Realpoesie‘“ (91). Wichtiger noch ist die Feststellung, dass religiöse Lyrik, die oft „im Verdacht“ steht, „eher der Traktatliteratur anzugehören: einer Gebrauchsliteratur für den kirchlich-sakralen Raum, die ihre Herkunft als mindere Schwester der Theologie nur schwer verbergen konnte“ (92), mit Andreas König (vielleicht in einer Linie mit Kurt Marti oder Richard Exner) gleichsam rehabilitiert wurde.

Joos wertet die Texte des zweiten, größeren Gedichtbandes als „offener als früher, noch verletzlicher“: „Ihr Wahrnehmungsvermögen hat sich geschärft.“ (94) Ob König im Literaturbetrieb einen Platz einnehmen wird? Darauf schielt er wohl nicht. Joos trifft den Punkt, wenn er bei einer Analyse meint, gewisse Aussagen in Königs Gedichten seien „bei aller sprachlichen Kargheit, dem mystischen Gebetsvertrauen sehr nahe. Das macht für viele heutige Leser, erst recht für die Literaturvermittler der Feuilletons, ihre Fremdheit aus – und ihre so verwirrende Tonlage.“ (95) Dass sich „leidenschaftliche Gottesrede“ wieder in Gedichte traut, markiert die Sehnsucht nach authentischer religiöser Erfahrung. Mehr fides qua als fides quae ist gefragt, und Andreas König kann das! Nach seinem Pseudonym befragt, erhielt ich von ihm die Antwort: „Johannes Scheffler war evangelisch und konvertierte später. Als Mystiker nannte er sich bekanntlich Angelus Silesius. Ich nenne mich König – weil ich die Sterne der Stille wohl richtig gedeutet habe und weil das Kind an der Krippe mich zu einem Königgemacht hat.“

Apropos: Sibylle Lewitscharoff, Büchner- Preisträgerin des Jahres 2013, meinte im Vorfeld der Preisverleihung: „Den Himmel aufreißen, Himmelsausblicke oder auch -einblicke schaffen, das ist eigentlich mein literarisches Grundmuster.“6 Ausblicke und Einblicke, nicht nur in den Himmel, bieten auch die Gedichte von Andreas König. Von seinem Brotberuf her ist er Realist genug, dass ihn der Blick nach oben zum Blick nach innen und nach unten zwingt, auf die Erde und ihre Abgründigkeiten. Genau davon erzählen seine Gedichte.

Andreas R. Batlogg,
in: STIMMEN DER ZEIT 2/2016

 

 

Im Jahr 2010 war unter dem Titel „Gespräche am Jakobsbrunnen“ ein erster Gedichtband des im Allgäu lebenden Kinder- und Jugendtherapeuten André van Wickeren (*1967) erschienen, veröffentlicht unter dem Pseudonym Andreas König. Theopoetische, meditativ einladende Texte hatte er dort vorgelegt, hineingeschrieben in eine katholisch geprägte Welt. Nun ist ein zweiter Gedichtband erschienen, der zwar einerseits die aus dem ersten Band bekannten formalen und inhaltlichen Linien weiter auszieht, der gleichwohl noch einmal eine andere Textwelt eröffnet.

In acht Abteilungen entfalten sich behutsame Verse, sparsam gesetzt: „Die Lichtuhr“, „Im Garten der Dreifaltigkeit“, „Vor dem Spiegel“, „Hirtenstab“, „Begegnung im Treppenhaus“, „Stare“, „Erinnerungsstück“ und „Lied der Sterndeuter“. Hier werden die zentralen Themenfelder bereits deutlich: biblische Assoziationen finden sich, Naturbeobachtungen, Erinnerungsbilder, Selbstbetrachtungen. Die Verse stimmen einen sanften Ton an, leise, fast sich selbst noch einmal zurücknehmend. „Stille“, „Licht“ und „Betrachtung“ werden zu zentralen Motiven, die wieder und wieder in neuen Zusammenhängen eingespielt werden. „Noch offener“, „noch verletzlicher“ (S. 94) seien diese Verse geworden, schreibt der Lyriker und Literaturkenner Erich Jooß im Nachwort. Der Lyriker wahre das grundlegende Geheimnis, dem er sich tastend und vorsichtig annähere, „indem er es enthüllt“ (S. 93). In der Tat: Enthüllung führt hier nicht zu definitorischer oder zugreifender Klarheit, sondern zu Hineinnahme in eine Welt des Sich-Einfühlens.

Ein weiteres immer wieder auftauchendes Motiv: das Wasser. An ihm fasziniert den Lyriker die Gleichzeitigkeit von Ruhe, Bewegung und Spiegelung. Es wird zu einem Medium, das uns hilft, diese Welt zu überwinden, denn „fließend ist / der Übergang / zum Schweigen“ (S. S. 12), so die Schlussverse des ersten Gedichtes „Der stillgelegte Mensch“. Nicht nur von Bächen und Flüssen ist die Rede, nicht nur von Meeresküsten und ihrem ruhigen Zeitpuls von Ebbe und Flut, sondern auch von „Weihwasser“ (S. 23), über dem „Gottes Geist“ schwebt in einem Hauch, der „die Auferstehung“ spüren“ lässt (S. 23), so in dem Gedicht „Gesten der Gleichzeitigkeit“. Andreas König verschleiert seine religiöse Beheimatung nicht. Die Betrachtungen der Außenwelt gleiten immer wieder über zu Einblicken in die Innenwelt, die auf Gott ausgerichtet ist.

Elemente aus der katholischen Liturgie und Glaubenspraxis, aber vor allem auch Kirchenbauten regen den Autor an, eine vorsichtige Erneuerung christlicher Lyrik in eigenem Stil zu wagen. Nicht politisch und experimentalpoetisch wie Kurt Marti, nicht in Anknüpfung an die mystische Poesie des Mittelalters wie Drutmar Cremer, nicht gebrauchskatechetisch stimuliert wie Silja Walter oder Andreas Knapp, sondern in knapper Verssprache, die eher an Michael Krüger oder den späten Hans Magnus Enzensberger denken lässt – beide definitiv nicht christliche Lyriker, wohl aber offen für Religion als Teil ihrer poetischen Welt. Indirekte Anklänge wirken dabei überzeugender als affirmative Bekräftigungen wie „Wein und Wasser / sind verbunden“ oder direkte Sprachbilder, in denen etwa von „Wellen“ die Rede ist, die „dich / zu Gottes neuen Ufern“ (S. 24) tragen. So etwa kann in dem Gedicht „In den Wäldern rund um die Kartause“ eine Herbststimmung beschrieben werden (S. 68):

Und plötzlich
Plötzlich hat das Laub
an der Wegbiegung dort
eine sanftere Farbe
Und die Gräser, die vergilbten, freuen sich,
weil der Herr sie sieht
mit deinen Augen

Der Blick auf die Natur erhält eine neue Tiefe, schwingt sich auf in eine Ahnung von Transzendenz, in die man sich einfühlen kann. Blicke auf die Natur ermöglichen diesen sanften Aufschwung, aber auch Erfahrungen in Kirchenräumen. So im folgenden Gedicht (S. 46):

Vesper, feierlich
(Klosterkirche St. Ottilien)

I
Die Zeit steht still,
es ruht das Weihrauchpendel

II
Im Strahlenkranz
die Gegenwart

In wenigen Worten wird Leben zum Symbol verschmolzen, das über den bloßen, erlebten Augenblick hinaus verweist und Gegenwart verdichtet. Fast sakramental verwandeln sich Verse zum Zugang zu Transzendenz. Seltsam wirkt der an ein wenig typisches Gedicht (S. 32) angelehnte Titel des Bandes, archaisch, esoterisch. Er führt eher weg von der Verwobenheit zeitgenössischer Nachdenklichkeit und zeitenthobener Transzendenz, welche die meisten Gedichte auszeichnet. Denn Andreas König hat erneut zarte Texte voller spiritueller Poesie vorgelegt. Seine meditativen Blicke auf Wirklichkeit und dahinterliegende Möglichkeit sind Einladungen, die Welt und sich selbst in aller Ruhe zu betrachten im Wissen oder Ahnen, dass Gott sich hinter und in den Dingen zu erkennen gibt.

Georg Langenhorst,
Besprechung auf der Website “Theologie und Literatur”