Monat: August 2018

Vom Wesen eines (echten) Gedichts

Einiges spricht, meiner Erfahrung nach, dafür, gutwilligen Menschen, die wenig bis keine Erfahrung mit Gedichten haben, Erklärungen an die Hand zu geben, welche ihnen den Zugang zum jeweiligen Text erleichtern. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sich der Autor zu den inneren und äußeren Umständen äußert, die zur Entstehung eines Gedichtes geführt haben. Aufschlussreich und sehr bedenkenswert erscheinen mir freilich die folgenden Überlegungen des Mystikers und Trappisten Thomas Merton, aus seiner Abhandlung „Brot in der Wüste“ (Untertitel „Die Psalmen als Weg zur Kontemplation“, Claudius Verlag 2013, übersetzt von Bernardin Schellenberger, S. 81 f): „Die Psalmen sind Gedichte und Gedichte haben einen Sinn – obwohl der Dichter nicht verpflichtet ist, den Sinn, den er darin sieht, unmittelbar jedem klarzumachen, der sich nicht die Mühe machen will, ihn selbst zu entdecken. Aber wenn man sagt, dass Gedichte einen Sinn haben, heißt das nicht, dass sie unbedingt eine praktische Information oder eine ausdrückliche Botschaft vermitteln müssen. In der Poesie werden die Wörter auf eine ganz andere Weise mit einem Sinn versehen, als das bei Wörtern in einem wissenschaftlichen Prosatext der Fall ist. Die Wörter eines Gedichts sind nicht bloß die Zeichen für Begriffe, sondern sie sind auch reich an affektiven und spirituellen Assoziationen. Der Poet verwendet die Wörter nicht bloß dazu, um Erklärungen abzugeben, also Aussagen über Fakten zu machen. Das ist gewöhnlich das Letzte, was ihn interessiert. Er will vor allem Wörter auf eine Weise zusammensetzen, dass sie sich auf eine geheimnisvolle und lebendige Weise gegenseitig aufleuchten lassen und damit den in ihnen verborgenen Assoziationsgehalt…