Kategorie: Gedanken

Erkältungszeit

Als ich heute Morgen ins Wohnzimmer kam, lag auf dem Sofa mein jüngster, bald erwachsener Sohn. Er hatte die Grippe erwischt und erzählte mir, dass ihm in der Nacht, als er nicht schlafen konnte, plötzlich das Gebet eingefallen ist, das wir früher, immer vor dem Einschlafen, an seinem Bett gesprochen haben. Es dauerte eine ganze Weile, bis uns der vollständige Text wieder einfiel: „Lieber Gott, nun schlaf ich ein, schicke mir den Engel dein, dass er treulich bei mir wacht, durch die ganze lange Nacht. Schütze alle, die ich lieb, alles Böse mir vergib. Kommt der helle Morgenschein, lass mich wieder fröhlich sein.“ Es berührte mich sehr, diese Reime und Gedanken wieder zum Klingen zu bringen, weckten sie doch Erinnerungen an eine längst vergangene, schöne, gemeinsame Zeit. Gleichzeitig zeigte mir der Umstand, dass meinem Sohn das Gebet in der Einsamkeit der Nacht eingefallen war, wie tief doch die Erfahrungen sich eingraben, die wir als Kinder mit dem Glauben (unserer Eltern) machen – und wie ebenso tief, in der Zeit der Not, unser Bedürfnis ist, einen Engel an unserer Seite zu haben. Gar nicht lange dauerte es, bis diese Begebenheit mich zu dem Gedicht führte, das ich hier wiedergeben möchte: Erinnerung des Sohnes an ein Kindergebet (für Michael) Lieber Gott, nun schlaf ich ein, schicke mir den Engel dein, dass er treulich bei mir wacht durch die ganze lange Nacht … Der Engel wacht noch immer bei dem Kind Wenn die Gebete auch längst eingeschlafen sind, tragen ihre Worte doch noch…

„Geliebte Gabi“

Im Memminger Stadtmuseum ist zur Zeit die Ausstellung „Geliebte Gabi“ zu sehen. Sie ist Teil des Projekts „VerVolkt“, in dessen Rahmen die Kuratorin Regina Gropper Schicksale von NS-Opfern aus dem Allgäu vorstellt. Bei Gabi handelt es sich um ein jüdisches Mädchen, das von seiner Mutter in der Zeit des nationalsozialistischen Rassenwahns zur Pflege in eine Allgäuer Bauernfamilie nach Stiefenhofen gegeben worden war, in der Hoffnung, dass sie dort vor Verfolgung sicher sein möge. Beide, Mutter und Tochter, hatten die Taufe empfangen, was beide nicht davor schützte, letztendlich deportiert und ermordet zu werden. Dabei konnte die Kuratorin für die Ausstellung auf zahlreiche Fotos zurückgreifen, die das Leben und die Entwicklung Gabis bis zu ihrer Deportation dokumentieren. Begleitend dazu hat der Autor und Filmemacher Leo Hiemer 2021 den Film „Kann Spuren von Nazis enthalten“ gedreht, der in der Ausstellung zu sehen ist. In zahlreichen Kurzvideos (zu finden auf Youtube und über seine Homepage) nimmt er überdies einzelne Themen der Ausstellung in den Blick oder liest (teils tief erschütternde) Abschnitte aus seinem Buch über das Leben des Mädchens vor. Bereits 1994 hatte Hiemer den Spielfilm „Leni ...muss fort“ gedreht, der Gabis Schicksal zur Vorlage hat. Kann man die Schrecken der Nazizeit überhaupt begreifen? Wenn, dann wohl nur im Ansatz – und nur, wenn man sich ihnen anhand des konkreten Schicksals einzelner Menschen annähert, wie dies hier in so berührender und gelungener Weise geschieht. So begegnet der Besucher zahlreichen weiteren Lebens- und Opfergeschichten, darunter auch der des Fotografen Julius Guggenheimer, dem die Memminger Kunsthalle…

Das Senfkornprinzip

Gestern kam mein ältester Sohn von einer kirchlichen Jugendveranstaltung an unserem Wohnort zurück. Er war der einzige Besucher, berichtete er. Doch der Gemeindereferent und er hätten sich gut unterhalten. Manchmal nehmen wir solche und ähnliche Erfahrungen zum Anlass, enttäuscht zu sein und einer Resignation Raum zu geben. Seit längerem aber beschäftigt mich viel mehr die Frage, ob wir – ob ich ganz persönlich – vielleicht erzogen werden soll. Und was es lernen gilt. Irgendwie scheint es so zu sein, dass wir wie Sämänner den uns anvertrauten Samen in der Wüste verstreuen. Was in uns blüht, findet keine Entsprechung im Außen. Es interessiert scheinbar nicht, nahezu niemanden. Und doch fühlen wir uns so reich beschenkt. Vielleicht ist es ja so, dass wir die Dimensionen jenes Reichs, das wir das „Reich Gottes“ nennen, erst zu erahnen beginnen. Dort scheinen völlig andere Regeln und „Gesetzmäßigkeiten“, andere Maßstäbe zu gelten als die, die wir kennen und denen wir gemeinhin folgen. „Erfolg“, wie wir ihn definieren, scheint dort anders „gesehen“ zu werden: Wir hören etwa, dass im Himmel mehr Freude herrsche über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte. Nach irdischen Maßstäben würde man wohl über mich sagen müssen, dass ich ein erfolgloser Schriftsteller bin, weil es für das, was ich schreibe, keine Öffentlichkeit (keinen „Markt“) gibt. Ich sah schon oft in ratlose Gesichter, bin meist auf kein Interesse, eher auf Vorbehalte gestoßen. Aber das Gesicht, in das ich sehe – nicht nur, wenn ich schreibe –, ist ein anderes. Und das, was zuweilen…

Vom Wesen eines (echten) Gedichts

Einiges spricht, meiner Erfahrung nach, dafür, gutwilligen Menschen, die wenig bis keine Erfahrung mit Gedichten haben, Erklärungen an die Hand zu geben, welche ihnen den Zugang zum jeweiligen Text erleichtern. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sich der Autor zu den inneren und äußeren Umständen äußert, die zur Entstehung eines Gedichtes geführt haben. Aufschlussreich und sehr bedenkenswert erscheinen mir freilich die folgenden Überlegungen des Mystikers und Trappisten Thomas Merton, aus seiner Abhandlung „Brot in der Wüste“ (Untertitel „Die Psalmen als Weg zur Kontemplation“, Claudius Verlag 2013, übersetzt von Bernardin Schellenberger, S. 81 f): „Die Psalmen sind Gedichte und Gedichte haben einen Sinn – obwohl der Dichter nicht verpflichtet ist, den Sinn, den er darin sieht, unmittelbar jedem klarzumachen, der sich nicht die Mühe machen will, ihn selbst zu entdecken. Aber wenn man sagt, dass Gedichte einen Sinn haben, heißt das nicht, dass sie unbedingt eine praktische Information oder eine ausdrückliche Botschaft vermitteln müssen. In der Poesie werden die Wörter auf eine ganz andere Weise mit einem Sinn versehen, als das bei Wörtern in einem wissenschaftlichen Prosatext der Fall ist. Die Wörter eines Gedichts sind nicht bloß die Zeichen für Begriffe, sondern sie sind auch reich an affektiven und spirituellen Assoziationen. Der Poet verwendet die Wörter nicht bloß dazu, um Erklärungen abzugeben, also Aussagen über Fakten zu machen. Das ist gewöhnlich das Letzte, was ihn interessiert. Er will vor allem Wörter auf eine Weise zusammensetzen, dass sie sich auf eine geheimnisvolle und lebendige Weise gegenseitig aufleuchten lassen und damit den in ihnen verborgenen Assoziationsgehalt…

Den Blick für den Himmel offenhalten

Beitrag einer Leserin Lieber Herr van Wickeren, mit großem Interesse habe ich mir gestern nun die einzelnen Beiträge auf Ihrer Internetseite durchgelesen. Ich bin wirklich sehr beeindruckt von dem, was diese Seite alles in sich hat und freue mich vor allem über die vielen positiven Stimmen, die aus Fachkreisen zu ihren Büchern kundgetan wurden.  Ich finde, sie spiegeln in sehr gebührender Weise die Genialität Ihrer Texte wieder und sind es wirklich wert, auf dieser Seite festgehalten zu werden. Auch die Lesungen aus der Sendereihe „Lesezeichen“ gefallen mir sehr gut. Das Hören der Gedichte berührt noch mehr und tiefer, als sie das beim Lesen schon tun.  Dann sind da noch die schönen Beiträge über den Autor, der die „Worte wörtlich und die Orte örtlich“ nimmt... das versetzt mich in der Tat immer wieder in Staunen, mit welcher Beobachtungsgabe Sie sowohl Orte wie Worte von ihrer Bedeutung her wahrnehmen und dann mit so reduzierten Mitteln so Großes zum Ausdruck bringen. Die Überschrift in dem ersten Kommentar von der Allgäuer Zeitung lautet ja, jedes Gedicht ist ein Gebet. Auch wenn nicht alle Gedichte auf den ersten Blick als solches erkennbar sind, so ist doch der Geist, der zu diesen Texten inspiriert, in allen Facetten spürbar. Ich bin sehr dankbar für Ihre Gedichte, denn sie helfen mir, über meinen Horizont hinaus zu denken und den Blick für den Himmel offen zu halten. Und das geschieht auf so einmalige und verborgene Weise, völlig überraschend und in ungeahnter Dimension. Manchmal sind es einzelne Zeilen eines Gedichts,…

Wie ein Gedicht entsteht

An einem Sonntag im Mai waren mein jüngster Sohn und ich oberhalb des Rottachsees unterwegs. Wir erreichten den Weiler Wachsenegg, an dessen Rand, bevor der Weg Richtung Sulzberg hinunterzieht, eine kleine Kapelle steht. Ihr Standort oberhalb des offenen Illertals ist sehr reizvoll. Als wir ankamen, stand die Tür offen. Drinnen erwartete uns ein Marienbild mit Jesuskind. Der Gegensatz zwischen dem nahezu winzigen „Gotteshaus“ und der weiten Landschaft – an jenem Tag zogen mächtige, gewitterschwangere Wolken am Himmel dahin – ließ mich nicht los. Eindrücke, die mich nicht loslassen, sind oft die Keimzelle eines Gedichts. Eine knappe Woche später meldete sich die Zeile: Die Tür zum Bild/ stand auf. Was zunächst wie eine nüchterne Beschreibung klang, entpuppte sich als treffende Beschreibung für jenen inneren Zustand, in dem ich mich befinde, wenn ich zu schreiben beginne. Dann steht „die Tür“ auf – zu einem Bild, das sich bereits geformt hat oder noch dabei ist, es zu tun. Diese Verknüpfung hatte ich nicht beabsichtigt; sie wurde (mir) geschenkt. Augenblicklich trat meine ursprüngliche Absicht, also das, worüber ich hatte schreiben wollen, in den Hintergrund. Bald fügte sich an jene erste eine weitere Strophe: Die Wolken/ zogen Zeilen. Dieser Einfall fügt den Eindruck des Himmels und die Absicht des Gedichts, nämlich, von seiner Entstehung und seinem Verhältnis zum Autor zu sprechen, zusammen. Auf dem Fuße folgte die dritte und bereits letzte Strophe: Die Jungfrau kam/ zum Kind. So war ich zu einem Gedicht gekommen, das ausdrückte, was beim Schreiben von Gedichten manchmal geschieht. Nicht immer…