Vom Wesen eines (echten) Gedichts

Einiges spricht, meiner Erfahrung nach, dafür, gutwilligen Menschen, die wenig bis keine Erfahrung mit Gedichten haben, Erklärungen an die Hand zu geben, welche ihnen den Zugang zum jeweiligen Text erleichtern. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sich der Autor zu den inneren und äußeren Umständen äußert, die zur Entstehung eines Gedichtes geführt haben. Aufschlussreich und sehr bedenkenswert erscheinen mir freilich die folgenden Überlegungen des Mystikers und Trappisten Thomas Merton, aus seiner Abhandlung „Brot in der Wüste“ (Untertitel „Die Psalmen als Weg zur Kontemplation“, Claudius Verlag 2013, übersetzt von Bernardin Schellenberger, S. 81 f):

„Die Psalmen sind Gedichte und Gedichte haben einen Sinn – obwohl der Dichter nicht verpflichtet ist, den Sinn, den er darin sieht, unmittelbar jedem klarzumachen, der sich nicht die Mühe machen will, ihn selbst zu entdecken. Aber wenn man sagt, dass Gedichte einen Sinn haben, heißt das nicht, dass sie unbedingt eine praktische Information oder eine ausdrückliche Botschaft vermitteln müssen. In der Poesie werden die Wörter auf eine ganz andere Weise mit einem Sinn versehen, als das bei Wörtern in einem wissenschaftlichen Prosatext der Fall ist. Die Wörter eines Gedichts sind nicht bloß die Zeichen für Begriffe, sondern sie sind auch reich an affektiven und spirituellen Assoziationen. Der Poet verwendet die Wörter nicht bloß dazu, um Erklärungen abzugeben, also Aussagen über Fakten zu machen. Das ist gewöhnlich das Letzte, was ihn interessiert. Er will vor allem Wörter auf eine Weise zusammensetzen, dass sie sich auf eine geheimnisvolle und lebendige Weise gegenseitig aufleuchten lassen und damit den in ihnen verborgenen Assoziationsgehalt freisetzen, um im Leser eine Erfahrung zu wecken, die die Tiefen seines Geistes auf eine recht einmalige Weise bereichert. Ein gutes Gedicht erschließt eine Erfahrung, die sich von keiner anderen Wörterkombination herbeiführen lassen würde. Deswegen ist es ein ganz eigenes Wesen und zeichnet sich durch eine Individualität aus, die es von jedem anderen Kunstwerk unterscheidet. Echte Gedichte scheinen wie alle großen Kunstwerke ein vollkommenes Eigenleben zu führen. Daher müssen wir in einem Gedicht keinen beiläufigen Bezug zu etwas außerhalb seiner selbst suchen, sondern auf diese seine ihm grundsätzlich eigene Individualität und sein Eigenleben achten, das seine Seele oder „Form“ ausmacht. Was das Gedicht eigentlich „meint“, lässt sich nur mit dem gesamten Inhalt jener poetischen Erfahrung zusammenfassen, die es im Leser auszulösen vermag. Diese umfassende poetische Erfahrung versucht der Poet dem Rest der Welt mitzuteilen. (…)“

One thought on “Vom Wesen eines (echten) Gedichts

  1. Karl Michael Ranftl

    Vor einigen Tagen habe ich in dem von mir sehr geschätzten Buch Anam Cara – das Buch der keltischen Weisheit von John O´Donohue ein paar Sätze wiederentdeckt, die ich mir vorgenommen habe, Ihnen als Ostergruß mitzuteilen, weil sie m. E. genau das treffen, was Sie Ihren Lesern zu vermitteln vermögen:

    Die Poesie ist der Ort, an dem die Sprache in ihrer Stille am schönsten artikuliert wird. Die Poesie ist die Sprache der Stille. Wenn Sie auf eine Seite Prosa blicken, sehen Sie ein einziges Gedränge von Wörtern. Wenn Sie dagegen ein Gedicht ansehen, ruhen die schlanken Wortgestalten im leeren Weiß der Buchseite. Die Seite ist ein Ort der Stille, in dem sich die Kontur des Wortes scharf abzeichnet und der Ausdruck eine vertraute Überhöhung erfährt. Es ist eine interessante und gewinnbringende Übung, sich seine Sprache und die Wörter, die man mit Vorliebe verwendet, genauer anzuschauen und zu sehen, ob man eine Stille oder ein Schweigen in ihnen hören kann. Eine gute Methode, seine Sprache zu kräftigen und neu zu beleben, besteht darin, sich der Poesie auszusetzen. In der Dichtung findet unsere Sprache läuternde Klärung und sinnliche Erneuerung.

    Nun, das war jetzt schon wieder fast zu viel der Worte, eben Prosa, aber doch sehr dicht, weil sie sich über Poesie ergeht.

    Mit Dank für Ihre poetischen Momente und herzlichen Grüßen

    Karl Michael Ranftl

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