Wie ein Gedicht entsteht

An einem Sonntag im Mai waren mein jüngster Sohn und ich oberhalb des Rottachsees unterwegs. Wir erreichten den Weiler Wachsenegg, an dessen Rand, bevor der Weg Richtung Sulzberg hinunterzieht, eine kleine Kapelle steht. Ihr Standort oberhalb des offenen Illertals ist sehr reizvoll. Als wir ankamen, stand die Tür offen. Drinnen erwartete uns ein Marienbild mit Jesuskind. Der Gegensatz zwischen dem nahezu winzigen „Gotteshaus“ und der weiten Landschaft – an jenem Tag zogen mächtige, gewitterschwangere Wolken am Himmel dahin – ließ mich nicht los. Eindrücke, die mich nicht loslassen, sind oft die Keimzelle eines Gedichts.

Eine knappe Woche später meldete sich die Zeile: Die Tür zum Bild/ stand auf. Was zunächst wie eine nüchterne Beschreibung klang, entpuppte sich als treffende Beschreibung für jenen inneren Zustand, in dem ich mich befinde, wenn ich zu schreiben beginne. Dann steht „die Tür“ auf – zu einem Bild, das sich bereits geformt hat oder noch dabei ist, es zu tun. Diese Verknüpfung hatte ich nicht beabsichtigt; sie wurde (mir) geschenkt. Augenblicklich trat meine ursprüngliche Absicht, also das, worüber ich hatte schreiben wollen, in den Hintergrund.

Bald fügte sich an jene erste eine weitere Strophe: Die Wolken/ zogen Zeilen. Dieser Einfall fügt den Eindruck des Himmels und die Absicht des Gedichts, nämlich, von seiner Entstehung und seinem Verhältnis zum Autor zu sprechen, zusammen.

Auf dem Fuße folgte die dritte und bereits letzte Strophe: Die Jungfrau kam/ zum Kind.
So war ich zu einem Gedicht gekommen, das ausdrückte, was beim Schreiben von Gedichten manchmal geschieht. Nicht immer so rasch – und selten so, dass der Text klar zu erkennen gibt, dass er so stehen bleiben will, wie die schöne kleine Kapelle von Wachsenegg:

 

Kapelle in Wachsenegg

Die Tür zum Bild
stand auf

Die Wolken
zogen Zeilen

Die Jungfrau kam
zum Kind

 

Foto von Kapelle: Robert Martin

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