Die einen kleben sich an Straßen fest und wandern ins Gefängnis Die andern kleben an sich, verschließen die Augen und nennen sich frei Bild: unsplash.com - Antoine Da cunha
Autor: Andreas-Koenig
Erkältungszeit
Als ich heute Morgen ins Wohnzimmer kam, lag auf dem Sofa mein jüngster, bald erwachsener Sohn. Er hatte die Grippe erwischt und erzählte mir, dass ihm in der Nacht, als er nicht schlafen konnte, plötzlich das Gebet eingefallen ist, das wir früher, immer vor dem Einschlafen, an seinem Bett gesprochen haben. Es dauerte eine ganze Weile, bis uns der vollständige Text wieder einfiel: „Lieber Gott, nun schlaf ich ein, schicke mir den Engel dein, dass er treulich bei mir wacht, durch die ganze lange Nacht. Schütze alle, die ich lieb, alles Böse mir vergib. Kommt der helle Morgenschein, lass mich wieder fröhlich sein.“ Es berührte mich sehr, diese Reime und Gedanken wieder zum Klingen zu bringen, weckten sie doch Erinnerungen an eine längst vergangene, schöne, gemeinsame Zeit. Gleichzeitig zeigte mir der Umstand, dass meinem Sohn das Gebet in der Einsamkeit der Nacht eingefallen war, wie tief doch die Erfahrungen sich eingraben, die wir als Kinder mit dem Glauben (unserer Eltern) machen – und wie ebenso tief, in der Zeit der Not, unser Bedürfnis ist, einen Engel an unserer Seite zu haben. Gar nicht lange dauerte es, bis diese Begebenheit mich zu dem Gedicht führte, das ich hier wiedergeben möchte: Erinnerung des Sohnes an ein Kindergebet (für Michael) Lieber Gott, nun schlaf ich ein, schicke mir den Engel dein, dass er treulich bei mir wacht durch die ganze lange Nacht … Der Engel wacht noch immer bei dem Kind Wenn die Gebete auch längst eingeschlafen sind, tragen ihre Worte doch noch…
Eine literarische Entdeckung
Kürzlich ist, im Ralf Schuster Verlag Passau, Melanie Barbatos Gedichtband „Die Erdbeerschale“ erschienen. Ich bin kein Literaturkritiker, nicht einmal ein literarisch besonders gebildeter Mensch, möchte aber dennoch mit diesen Zeilen versuchen, meine wärmste Empfehlung auszusprechen: Stillleben mit Erdbeeren Wieviel besser als Totenkopf und Stundenglas Ist doch eine Schale voll frischer Erdbeeren Jeder weiß wie köstlich Erdbeeren schmecken Mancher wünscht sich statt des Bildes die Frucht Doch auch das Bild gefällt Niemand meint, Du seist affektiert Deine Mutter sagt nicht: Häng das ab Höchstens, dass ein Gast zu schnell vorüber geht Er kann ja wiederkommen Bereits dieses erste Gedicht (S.9) ist getragen von einer, wie mir scheint, für die Autorin typischen Spannung aus Ernst und gelassener Heiterkeit, Lebensfreude und Tiefe des poetischen Suchens und Fragens, die mir beim Lesen immer wieder ein Lächeln auf die Lippen gezaubert hat, während schon der nächste Vers mich mit Staunen erfüllen konnte, über die existenzielle Kraft eines Bildes, etwa jenes, das die Lyrikerin für die höchste Stufe des Vertrauens findet (S. 17): Drei Stufen des Vertrauens, nach Al-Ghazali Vertrauen wie der Mann, der eine Sache seinem Anwalt überträgt Vertrauen wie das Kind, das weiß, dass es die Mutter schützt und pflegt Vertrauen, ohne Trachten, ohne eignen Sinn So wie der Leichnam in der Hand der Wäscherin Das ist große Poesie, die ohne jedes Pathos auskommt. Hier bin ich ergriffen, im besten Sinne des Wortes, und mag mich dem Gedankengang der Autorin überlassen, die mich an der Kinderhand führt, bis in die Zone des völligen Überlassenseins…
„Geliebte Gabi“
Im Memminger Stadtmuseum ist zur Zeit die Ausstellung „Geliebte Gabi“ zu sehen. Sie ist Teil des Projekts „VerVolkt“, in dessen Rahmen die Kuratorin Regina Gropper Schicksale von NS-Opfern aus dem Allgäu vorstellt. Bei Gabi handelt es sich um ein jüdisches Mädchen, das von seiner Mutter in der Zeit des nationalsozialistischen Rassenwahns zur Pflege in eine Allgäuer Bauernfamilie nach Stiefenhofen gegeben worden war, in der Hoffnung, dass sie dort vor Verfolgung sicher sein möge. Beide, Mutter und Tochter, hatten die Taufe empfangen, was beide nicht davor schützte, letztendlich deportiert und ermordet zu werden. Dabei konnte die Kuratorin für die Ausstellung auf zahlreiche Fotos zurückgreifen, die das Leben und die Entwicklung Gabis bis zu ihrer Deportation dokumentieren. Begleitend dazu hat der Autor und Filmemacher Leo Hiemer 2021 den Film „Kann Spuren von Nazis enthalten“ gedreht, der in der Ausstellung zu sehen ist. In zahlreichen Kurzvideos (zu finden auf Youtube und über seine Homepage) nimmt er überdies einzelne Themen der Ausstellung in den Blick oder liest (teils tief erschütternde) Abschnitte aus seinem Buch über das Leben des Mädchens vor. Bereits 1994 hatte Hiemer den Spielfilm „Leni ...muss fort“ gedreht, der Gabis Schicksal zur Vorlage hat. Kann man die Schrecken der Nazizeit überhaupt begreifen? Wenn, dann wohl nur im Ansatz – und nur, wenn man sich ihnen anhand des konkreten Schicksals einzelner Menschen annähert, wie dies hier in so berührender und gelungener Weise geschieht. So begegnet der Besucher zahlreichen weiteren Lebens- und Opfergeschichten, darunter auch der des Fotografen Julius Guggenheimer, dem die Memminger Kunsthalle…
Das Senfkornprinzip
Gestern kam mein ältester Sohn von einer kirchlichen Jugendveranstaltung an unserem Wohnort zurück. Er war der einzige Besucher, berichtete er. Doch der Gemeindereferent und er hätten sich gut unterhalten. Manchmal nehmen wir solche und ähnliche Erfahrungen zum Anlass, enttäuscht zu sein und einer Resignation Raum zu geben. Seit längerem aber beschäftigt mich viel mehr die Frage, ob wir – ob ich ganz persönlich – vielleicht erzogen werden soll. Und was es lernen gilt. Irgendwie scheint es so zu sein, dass wir wie Sämänner den uns anvertrauten Samen in der Wüste verstreuen. Was in uns blüht, findet keine Entsprechung im Außen. Es interessiert scheinbar nicht, nahezu niemanden. Und doch fühlen wir uns so reich beschenkt. Vielleicht ist es ja so, dass wir die Dimensionen jenes Reichs, das wir das „Reich Gottes“ nennen, erst zu erahnen beginnen. Dort scheinen völlig andere Regeln und „Gesetzmäßigkeiten“, andere Maßstäbe zu gelten als die, die wir kennen und denen wir gemeinhin folgen. „Erfolg“, wie wir ihn definieren, scheint dort anders „gesehen“ zu werden: Wir hören etwa, dass im Himmel mehr Freude herrsche über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte. Nach irdischen Maßstäben würde man wohl über mich sagen müssen, dass ich ein erfolgloser Schriftsteller bin, weil es für das, was ich schreibe, keine Öffentlichkeit (keinen „Markt“) gibt. Ich sah schon oft in ratlose Gesichter, bin meist auf kein Interesse, eher auf Vorbehalte gestoßen. Aber das Gesicht, in das ich sehe – nicht nur, wenn ich schreibe –, ist ein anderes. Und das, was zuweilen…
Auf die Berge zu
(Winterwanderung ins Trettachtal) Schneefahnen werden hoch oben gehisst Bewegt euch nicht, ihr weißen Mauern Während ich durch euch hindurchgehe
Kostbarer Fund
(Liebesbrief vom siebenjährigen Sohn) … ich mag dich, ich hab dich lieb, du bist mein allerbester Freund … I Nie haben wir genug geliebt, in der Erinnerung – II Und doch erinnert mich dein kleiner Brief daran, wie groß die Liebe ist Und wie sehr sie genügt
Ein Wendepunkt?
Mitten oder am Anfang einer Krise scheint es zu früh, über deren Ausgang zu spekulieren. Dennoch möchte ich einer Hoffnung Ausdruck verleihen, die ich hege. Es ist die Hoffnung, dass sie mehr als viele Tote, Trauer, Angst und wirtschaftliche Schäden hinterlässt – sondern zu einem Wendepunkt im Denken und Handeln vieler werden möge. Monatelang beherrschte, vor „Corona“, die Klimakrise unsere Medien. Und dennoch schien es, als würden sich nur wenige Menschen aufgerufen fühlen, ihren Lebensstil zu ändern. Im Gegenteil: Luft-, Schiffs-, Auto- und Schwerverkehr strebten immer neuen Rekordzahlen entgegen. Nun aber schafft es eine Pandemie, einen Zustand herzustellen, den man für unmöglich gehalten hätte: Halbleere Straßen, ein blauer Himmel fast ohne Kondensstreifen, keine Kreuzfahrten mehr. Die Motivation ist freilich eine andere. Und doch fragt man sich, wer hier „die Notbremse“ erfolgreich gezogen haben könnte, um uns, in unserm scheinbar nicht zu verlangsamenden, zerstörerischen Treiben (nicht nur, was die Schöpfung und unsere Lebensgrundlagen betrifft), wenigstens kurzzeitig zum Stillstand zu bringen. Und „Stillstand“ beinhaltet die Möglichkeit, innezuhalten, nachzudenken, innezuwerden, wo wir stehen, worauf es ankommt, wohin die Reise (weiter-)gehen soll. Die leise Hoffnung, die ich habe, ist, dass diese Krise bleibende Spuren in unserem Bewusstsein hinterlässt. Dass sie uns vielleicht sogar grundlegend verwandelt. Ich bin mir bewusst, dass dies mehr ein Wunschtraum ist. Aber wer glaubt, hält die eigene Verwandlung stets für eine reale Möglichkeit. Und wer darüber hinaus Gedichte schreibt, steht öfters an Wendepunkten, etwa vor der Frage: Wie findet er eine Haltung zu dem, was er tut – und was…
Nachwort zur 2. Auflage des nunmehr als Hardcover vorliegenden Bands „Zwischentoren“ (2015)
Was bleibt dem Dichter, als das Schöne zu beschwören? Und nach der Wahrheit zu fragen? – Wir leben in einer Zeit, in der sich unser Beharrungsvermögen, im negativen Sinne, zunehmend als unser Verhängnis erweist. Obwohl wir fast wöchentlich in den Nachrichten über die neuesten Niederlagen im Bemühen um den Klimaschutz unterrichtet werden, leben wir weiter so, als käme nichts Bedrohliches auf uns zu. Im Gegenteil: Wir machen „mehr desselben“ Negativen, statt weniger. Eine dumpfe Angst breitet sich aus, auf die manche Zeitgenossen mit dreister Verächtlichkeit reagieren: "Nach mir die Sintflut“, sagen sie und schämen sich nicht, öffentlich dementsprechend zu handeln. Vergeblich wartet man auf die Ächtung unzeitgemäßer (weil egozentrischer) Verhaltensweisen ebenso, wie auf das Erwachen so vieler (gerade auch in der jungen Generation), die weiter den Traum unbegrenzter Ressourcen und grenzenloser Belastbarkeit von Mutter Erde träumen - oder nur „ihren Spaß“ haben wollen. Und welche Art auch immer ausstirbt oder vom Aussterben bedroht ist: Wirklich kümmert es uns nicht, so wenig wie das Schicksal jener Artgenossen, die schon heute unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben (vom Schicksal unserer eigenen Kinder und Enkel zu schweigen). Wir müssen feststellen: Der alte Häuptling hatte recht mit seiner Vorhersage. Aber um Wahrheit und Gerechtigkeit scheint es unserer Zeit immer weniger zu gehen. Vielmehr werden „von höchster Stelle“ der Lüge Tür und Tor geöffnet, sofern diese nur den eigenen Zwecken dient. Was bleibt dem Dichter, in dieser Lage, als auf den Sinn seines Schreibens zu beharren? Er weiß, dass er weder als einzelner…
Vom Wesen eines (echten) Gedichts
Einiges spricht, meiner Erfahrung nach, dafür, gutwilligen Menschen, die wenig bis keine Erfahrung mit Gedichten haben, Erklärungen an die Hand zu geben, welche ihnen den Zugang zum jeweiligen Text erleichtern. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sich der Autor zu den inneren und äußeren Umständen äußert, die zur Entstehung eines Gedichtes geführt haben. Aufschlussreich und sehr bedenkenswert erscheinen mir freilich die folgenden Überlegungen des Mystikers und Trappisten Thomas Merton, aus seiner Abhandlung „Brot in der Wüste“ (Untertitel „Die Psalmen als Weg zur Kontemplation“, Claudius Verlag 2013, übersetzt von Bernardin Schellenberger, S. 81 f): „Die Psalmen sind Gedichte und Gedichte haben einen Sinn – obwohl der Dichter nicht verpflichtet ist, den Sinn, den er darin sieht, unmittelbar jedem klarzumachen, der sich nicht die Mühe machen will, ihn selbst zu entdecken. Aber wenn man sagt, dass Gedichte einen Sinn haben, heißt das nicht, dass sie unbedingt eine praktische Information oder eine ausdrückliche Botschaft vermitteln müssen. In der Poesie werden die Wörter auf eine ganz andere Weise mit einem Sinn versehen, als das bei Wörtern in einem wissenschaftlichen Prosatext der Fall ist. Die Wörter eines Gedichts sind nicht bloß die Zeichen für Begriffe, sondern sie sind auch reich an affektiven und spirituellen Assoziationen. Der Poet verwendet die Wörter nicht bloß dazu, um Erklärungen abzugeben, also Aussagen über Fakten zu machen. Das ist gewöhnlich das Letzte, was ihn interessiert. Er will vor allem Wörter auf eine Weise zusammensetzen, dass sie sich auf eine geheimnisvolle und lebendige Weise gegenseitig aufleuchten lassen und damit den in ihnen verborgenen Assoziationsgehalt…